Face of the Day: Lila Nettsträter.
Über die Kunst, keine Grenzen zu setzen.
Wenn Lila Nettsträter „Kunst” hat das einen ganz besonderen Klang. Das Wort geht ihr weich über die Lippen und liebevoll, man merkt gleich: Hier verbirgt sich Passion, nicht nur Profession. Die 31-Jährige beherrscht beides. Als Gründerin der Online-Galerie Kunst100 hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, Kunst und Menschen zu verbinden. Egal ob digital oder analog, sie öffnet die Türen zu echter Kunst zu fairen Preisen - für den eigenen Geldbeutel und auch für die Kunstschaffenden dahinter.
Kunst100 bietet Werke für jedermann - und jederfrau, wie Lila Nettsträter ergänzen würde. Auch hier ist sie fair. Unikate oder Limitierungen von maximal 100 Drucken. Daher der Name, nahmen wir an. Doch hier sollten wir noch eines Besseren belehrt werden ...
Die schönsten Geschichten entstehen, wenn ein Funke Leidenschaft zu etwas Großem wächst. Das beweist auch die Geschichte von Lila Nettsträter. Obwohl sie Betriebswissenschaften studiert und lange im Vertrieb gearbeitet hat, ist Kunst100 nicht aus einer Business-Idee heraus entstanden. Sondern aus einem bewegten Leben voller Inspiration.
Wie kommen Menschen zur Kunst?
Alles begann 2015 mit einer Filmemacherin namens Annie May Demozay, die in Tasmanien wohnte und zu viel Kunst für ihren Film geschaffen
hatte - deshalb war sie im Begriff, sie zu entsorgen. „Das waren
wunderschöne Werke“, erinnert sich Nettsträter. „In mir entstand sofort so etwas wie ein Beschützerinstinkt. Ich dachte: Das kann ja wohl nicht wahr
sein, dass du jetzt das Gefühl hast, du müsstest das wegschmeißen!"
Es gab Tausende von Menschen, die die Werke gern aufhängen würden, da war sie sich sicher. Bloß: Wie kamen die Menschen zu dieser Kunst, wie kam die Kunst zu ihnen? Nettsträter, die damals für Kost und Logis um die Welt reiste, fasste sich ein Herz: „Sorry, Annie May, aber bevor du deine Werke wegschmeißt, gib sie mir. Ich weiß, das sieht jetzt nicht
danach aus, aber ich nehme sie mit und irgendwann werde ich sie ausstellen. Das verspreche ich dir!“
Wenn das Wohnzimmer zur Galerie wird.
Wenn Lila Nettsträter etwas angeht, dann richtig. 14 Monate später bot sie nicht nur der tasmanischen Filmemacherin, sondern auch 20 weiteren Künstler:innen ihre Wohnung als Galerie an. Wer nun an Gemälde denkt, die sich zwischen Töpfe und Pfannen quetschen, liegt falsch. Gemeinsam mit ihrem Mann räumte Nettsträter in einer Hauruck-Aktion die Wohnung leer. Sie zog aus für ein Wochenende, strich die Wände, organisierte, plante und verausgabte sich - bis ihre Stimme für eine Woche versagte. ‚Es waren sehr viele Kunstwerke auf sehr wenigen Quadratmetern‘, fasst sie lachend zusammen.
Das Ergebnis war die Mühen wert. Über 40 verkaufte Kunstwerke zählte sie an einem einzigen Wochenende, aber auch einen ernüchternden Rückschlag, als eine Abmahnung in ihren Briefkasten flatterte und die zweite geplante Ausstellung verhinderte. „Ich habe bei jeder Ausstellung viel gelernt“, bekräftigt Lila Nettsträter ohne einen Anflug von Reue. „Zum Beispiel, dass
bestehende Regeln und Gesetze die kreative Arbeit und deren Wertschätzung enorm erschweren können.” Doch das hielt sie nicht auf.
„Ich habe immer nur mitgemacht statt gesteuert.“
Was folgte, waren Pop-up- in Berlin-Friedrichshain und eine Halle auf dem RAW-Gelände - etwas Großes bahnte sich an. Der Startschuss für Kunst100? Lila Nettsträter winkt ab. „In dem Moment, als ich diese Ausstellungen plante, habe ich noch gar nicht realisiert, dass sich mein ganzes Leben verändern würde. Wir hatten keine Heizungen. Ich habe jeden Tag
neben Freunden und Freundinnen gezittert, die ehrenamtlich halfen, um die Kunstwerke zu verkaufen. Alles entwickelte sich so schnell und organisch, dass ich gefühlt immer nur mitgemacht statt gesteuert habe.”
Lila Nettsträter hat so viel geschafft, so viel gemacht, weiß so viel und stellt Ihr Licht trotzdem gern unter den Scheffel. Vielleicht gehört das ja zu einer Persönlichkeit, die von ganzem Herzen anderen eine Bühne bietet. Der das Herz aufgeht, wenn die Kunst, die sie liebt, gesehen und auch von anderen geliebt wird.
Der Startschuss für Kunst100 erfolgte 2018, als Lisa Kostenko als Partnerin einstieg. Zusammen gründeten die Frauen einen
Onlineshop mit dem Ziel, digital das Gleiche zu leisten wie eine analoge Galerie. „Aber je tiefer wir uns reinfühlten, desto klarer wurde: Das klappt so nicht. Die Offline-Galerie hat viel mehr zu bieten als ein digitaler Raum. Es gibt dort Bewegung. Es gibt Ton. Die Offline-Galerie hat eine Verbalisierung, weil Menschen sprechen. Es gibt Verbindungen, zwischenmenschliche, aber
auch räumliche. Das zu verstehen, ist nicht schwer, aber es zu digitalisieren, ist eine Herausforderung.”
Die beiden starteten neu, auf weißer Leinwand. Diesmal setzten sie den Fokus bewusst auf Video, Ton und die Atmosphäre des Raums. Sie integrierten das Medium Instagram in ihr Geschäft. Schufen Platz für Bewegtbild und zeigten Kunstwerke von verschiedenen Seiten, mit Menschen. „Man muss Kunstwerke‚ vor der Kamera berühren, damit klar wird, dass das Materie ist,
was wir zeigen. Erst dann kann man die Kunst verstehen.”
Lila Nettsträter ist absoluter Tee-Fan! Sie startet jeden Morgen mit einem Schwarztee, einem Schuss Hafermilch und Agavendicksaft. Mit ihrem professionellen Auge hat sie gleich unsere Avoury One Teemaschine unter die Lupe genommen: „Ich liebe das Minimalistische und dass der Wassertank vorne ist. Das macht es sehr leicht, beschwingt und klar. Ein bisschen erinnert mich die Avoury One an das Siebzigerjahre-Space-Age. Das holt mich momentan total ab!"
„Es geht darum, zu kuratieren.“
Heute stellen Nettsträter und Kostenko um die 400 Werke aus. „Wir könnten auch mehr”, erzählt Lila Nettsträter, „machen wir aber nicht. 400, haben wir gelernt, ist eine Grenze, die ausreicht. Mehr kann ein Mensch gar nicht fassen. Letztlich geht es ja auch nicht um Masse, sondern darum, zu kuratieren.“ Wo Lila Nettsträter das gelernt hat? Gewiss nicht im Betriebswirtschaftsstudium, auch nicht während ihrer Zeit im Modehaus Ansons. Und erst recht nicht, als sie eine Zeit lang als
Skipperin irgendwo zwischen Fashion und Kunst über die Flüsse schipperte. Wo dann? ‚Da hole ich mal aus‘, antwortet Lila Nettsträter lächelnd und führt uns tief in die Welt der Kunst ein.
Zuerst erklärt Nettsträter, wie sie ihre persönlichen Wände daheim gestaltet. „Wenn man für sich selbst kuratiert, stellt man sich einem oder mehreren Bildern gegenüber. Bald schon fängt eines an, mit dir zu ‚sprechen‘. Das kann das Motiv sein, das dich an eine schöne Situation erinnert - ein bisschen, wie wenn man ein eigenes Tattoo hat. Oder es sind Farben, die resonieren, weil man eine Verbindung zu ihnen hat. So fängt man an und geht weitere Bilder ab. Dabei wird etwas resonieren, man fragt sich gar nicht warum. Es passiert einfach. Am Ende hast du eine volle Wand persönlicher Eindrücke.”
Wenn Lila Nettsträter nicht für sich, sondern für andere Personen kuratiert, geht sie anders vor. Hier bestimmt sie das erste Werk bewusst, beispielsweise nach einem Thema oder der Methodik, die der:die Künstler:in im Schaffungsprozess angewendet hat. Jetzt geht sie strategisch vor: Welche Eindrücke hat der:die Künstler:in von der Welt im Werk verarbeitet? Wie
funktioniert die Bildsprache? Wie wirken die Farben? Welche Materialien wurden verwendet, welche Werkstoffe? Wie wurden sie angewandt? Wer oder was ‚spricht‘ in diesem Bild - Linien, Motive, Farben? Vom ersten Blick baut Nettsträter die Brücke zum nächsten. „Je länger ich das geübt habe, und wir haben viele Wände kuratiert in den letzten Jahren, desto mehr habe ich verstanden, dass eine Systematik dahintersteckt."
Warum Lila Nettsträter „Expertise“ meidet.
Wenn sie also einer klaren Systematik folgt, was unterscheidet Lila Nettsträter dann von den anderen Kurator:innen, Galerist:innen, Kunstexpert:innen dieser Welt? Einiges — zuallererst einmal, dass sie den Begriff „Expertise” meidet, weil er ihrer Vision widerspricht: Jede:r kann Kunst. Als Nächstes, dass sie es ablehnt, Kunst ausschließlich nach quantifizierbaren Kriterien zu bewerten. „Der Kunstmarkt ist definitiv etwas anderes als die Kunst. Es ist sehr wichtig, dass man das versteht“, betont Nettsträter.
Während der Kunstmarkt Werke nach qualifizierbaren Eigenschaften wie Referenzen, Anzahl von Ausstellungen in Galerien oder der Bekanntheit der Kunstschaffenden bewertet, blickt Nettsträter über den Leinwandrand hinaus. Sie betrachtet die Emotion und Geschichte eines jeden Stücks. „Nehmen wir Annie May, die Filmemacherin. Ihre Kunstwerke hatten keine
Referenzen, wurden noch nicht in Galerien ausgestellt, fanden sich in keinen Datenbanken wieder“, erklärt sie. „Aus Sicht des Kunstmarkts hatten ihre Werke keinen Wert. Doch aus Sicht der Kunst ist der Wert enorm! Die Bildsprache, die Methodik, die Geschichte, die Evolution, wie ihre Werke vom Filmset in die Wohnzimmer gelangen ... Das ist es, was wir bei Kunst100 so
lieben. Echte Künstler.innen zu fördern. Und ihnen den Raum zu geben, ihre Kunst in die Welt zu tragen, zu anderen Menschen.
Egal wie viel Budget zur Verfügung steht.”
Das Geheimnis hinter dem Namen.
Kunst 100. Das heißt so, weil jedes Werk als Unikat oder in maximal 100 Limitierungen angeboten wird, dachten wir. Das stimmt auch. Dahinter verbirgt sich jedoch noch eine weitere Bedeutung. „Ich habe da ein kleines Geheimnis“, verrät uns Lila
Nettsträter ganz zum Schluss.
„Damals, bei der Wohnzimmer-Ausstellung, hießen wir noch Kunst<100. Also ‚Kunst unter 100 Euro‘. Aber ich habe schnell gemerkt: Wenn ich diese Grenze setze, begrenze ich die Kunstschaffenden. Ich will meine Künstler:innen aber frei wissen! Sie sollen all das machen können, was sie wollen.” In diesem Satz spiegelt sich all das wider, wofür Lila Nettsträter unserer Meinung nach steht: ihre Leidenschaft für das Individuelle. Ihr Antrieb, allen die Tür in die Kunstwelt zu öffnen. Und ihr Wille, der Kunst und den
Menschen dahinter keine Grenzen zu setzen.
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